„Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Aber wir können aus der Vergangenheit lernen und das System für morgen aufstellen.“ – Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK)
Das österreichische Gesundheitssystem steht an einem Wendepunkt: Wie schaffen wir es, die steigenden Kosten und wachsenden Ansprüche der Patient:innen zu meistern – ohne dabei die soziale Gerechtigkeit zu opfern? Wie gelingt der Balanceakt zwischen begrenzten Ressourcen und dem Wunsch nach mehr gesunden Lebensjahren für alle?
Diese Fragen treiben die Initiative Dialog Gesundheit an. Im neuesten Gespräch stellt Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), zusammen mit Uta-Maria Ohndorf konkrete Lösungen vor, die den Weg in ein nachhaltiges und gerechtes Gesundheitssystem ebnen.
Auf einen Blick:
Intelligente Patient:innnsteuerung und Hausärzt:innenzentrierung
Strukturierte Daten statt Datensilos
Mehr Innovation mit Evidenz
Die Österreichische Gesundheitskasse versorgt über 7,5 Millionen Menschen – mit rund 20 Milliarden Euro jährlich. Doch laut Andreas Huss ist der Gestaltungsspielraum überraschend gering. Spitalsfinanzierung, Medikamentenkosten, Honorare – vieles ist gesetzlich oder strukturell fixiert.
Was fehlt, ist eine sinnvolle Steuerung: Statt Leistungen gezielt dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden, funktioniert das System oft nach dem Prinzip „viel hilft viel".
Ein plakatives Beispiel: CT- und MRT-Untersuchungen. In kaum einem anderen Land liegen so viele Menschen jährlich in einer Gantry, der Untersuchungsröhre, und trotzdem gibt es lange Wartezeiten auf diese Termine und falsche Therapieansätze.
„Wir haben ein Gesundheitssystem, das viele gute Dinge tut – aber nicht immer die richtigen. Und das kostet uns viel Geld.” - Andreas Huss
Ein zentrales Problem: Der Wunsch nach Diagnostik oder Therapie wird oft nicht hinterfragt – weder vom System noch von den Ärzt:innen selbst. Laut Andreas Huss braucht es hier dringend mehr Struktur.
Ziel ist ein elektronisches Zuweisungssystem, das medizinische Notwendigkeit, Dringlichkeit und sinnvolle Diagnostik abgleicht.
Als Beispiel: Für ein Prostata-MRT braucht es künftig eine klare Indikation durch Urolog:innen, und nicht nur einen Wunsch der Patienten. Denn Gesundheitsversorgung ist kein Wunschkonzert, so Andreas Huss. Aber sie muss gerecht, nachvollziehbar und wirksam sein.
Die Basis für dieses Zuweisungsmodell soll dabei ein starkes, zugängliches Hausärzt:innen-System bilden.
Heute hat rund ein Viertel der Österreicher:innen keinen Hausarzt oder keine Hausärztin mehr – vor allem in Ballungsräumen. Das hat Folgen: Fehlversorgung, wenig Überblick, unnötige Krankenhausaufenthalte. Es fehlt eine zentrale Stelle, die die Patient:innen gesamt betrachten kann und dabei alle Befunde von Spezialist:innen, Krankenhausaufenthalten und Untersuchungen im Blick hat.
Andreas Huss fordert die Rückkehr zu einer hausärzt:innenzentrierten Versorgung und mehr Vertrauen darin. Mit der neuen Rolle der Fachärzt:innen für Allgemein- und Familienmedizin soll der Fokus auf eine ganzheitliche Betreuung gelegt werden. Denn diese Ärzt:innen kennen ihre Patient:innen oft schon länger und gut, sie sind Vertrauenspersonen, sowie zentrale Lotsenstelle im System.
Primärversorgungszentren, interprofessionelle Teams und neue Modelle wie Pflege- und Therapiepraxen sollen Hausärzt:innen in dieser Funktion unterstützen und das System effizienter machen.
Ein weiterer Schlüssel liegt in der Digitalisierung. Die elektronische Gesundheitsakte ELGA wurde früh eingeführt, aber danach kaum weiterentwickelt. Viele Befunde liegen laut Andreas Huss im „Plastiksackerl“ bei den Patient:innen statt digital strukturiert vor.
Mit dem nächsten Finanzausgleich sollen zentrale Lücken geschlossen werden. Dazu soll die strukturierte Diagnosecodierung in die niedergelassene Versorgung integriert, sowie andere Gesundheitsberufe in die ELGA eingebunden werden.
Denn nur mit guten – und gut strukturierten – Daten können Leistungen sinnvoll gesteuert und digitale Innovationen effektiv eingesetzt werden.
„Wir brauchen keine Datenfriedhöfe. Wir brauchen relevante Informationen zur richtigen Zeit, am richtigen Ort – für die richtigen Menschen.” - Andreas Huss
Ein System, das vor allem für Krankheit zahlt, wird auf Dauer teuer. Deshalb will die ÖGK Prävention als zentrale Säule stärken, besonders durch organisierte Screening-Programme.Ein gezieltes PSA-Screening bei Verdacht auf eine Prostata-Erkrankung könnte beispielsweise kostengünstiger und wirksamer sein als die aktuelle, breite Untersuchungspraxis, bei der Maßnahmen eher unstrukturiert eingesetzt werden.
Als Beispiel zur Bewusstseinsbildung betont Andreas Huss das aktuelle Erwachsenen-Impfprogramm:
Gratis Influenza-Impfung
HPV-Impfung für unter 30-Jährige
Geplante Ausweitung auf RSV, Pneumokokken, Herpes Zoster und mehr
Doch Impfungen allein reichen nicht. Prävention muss in der Lebensrealität der Menschen ankommen – in Betrieben, Apotheken und digitalen Angeboten wie Praxis-TV oder Informationsanzeigen.
Österreich braucht kein größeres, sondern ein proaktives und dem Wandel entsprechendes Gesundheitssystem – eines, das auf Daten, Prävention, gezielte Steuerung und Vertrauen setzt. Statt reaktiv auf Erkrankungen zu reagieren, muss der Fokus auf frühzeitige Erkennung, individuelle Gesundheitspläne und die aktive Einbindung der Patient:innen gelegt werden. Hausärzt:innen werden gestärkt, Überversorgung wird vermieden und innovative Ansätze werden mutig umgesetzt, um das System effizienter und nachhaltiger zu gestalten.
Wie Andreas Huss betont: „Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Aber wir können aus der Vergangenheit lernen und das System für morgen aufstellen.“
Der Wandel beginnt mit dem Dialog. Und den führen wir – gemeinsam, offen und mutig.